Über-große Pullis
Eine autobiografische Geschichte.
„Annika, du musst anfangen, deine Geschichten zu erzählen“, erklärt mir eine Freundin. „Die wollen die Menschen lesen und hören, bevor sie beginnen, dir ihre zu erzählen.“
Mein Schreibpädagoginnen-Ich nickt zustimmend.
Währenddessen schüttelt mein 18-jähriges Ich irgendwo in der hintersten Seelenecke vehement die schwarzbraunen Locken und presst die Lippen zusammen.
Komm, wir tippen gemeinsam, meint mein 41-jähriges Ich:
Und unsere Geschichte beginnt in einem Waldstück. Irgendwo im tiefsten, sauerländischen Nirgendwo.
Sie lehnt mit dem Rücken an einer breiten Linde. Es ist Frühsommer und im Waldstück riecht es nach feuchtem Moos, wildem Waldblütenstaub und… Bier.
Der Abend ist fortgeschritten. Untergehende Sonne und aufgehender Mond streiten sich ums Dämmerlicht.
Sie ballt die Fäuste in den Taschen des schwarzen Hoodies.
Sie will nicht weinen. Aber hier im Mondlindenschatten sieht es keiner.
Dicke Tränen tropfen auf die Aufschrift „Abitur 2001“.
Durchatmen, spricht sie sich zu. Sie nimmt die zu langen Ärmel, um das Gesicht trocken zu tupfen. Zum Glück ist verlaufene Mascara gerade „in“.
Der Pulli ist eindeutig zu groß. Sie schiebt die Taschenfäuste nach vorne, um die Aufschrift deutlicher zu erkennen: „Big Break: Abitur 2001“. Sie weiß, auf der Rückseite steht ihr Name unter den „Abiturientinnen und Abiturienten“.
Der Pulli fühl sich zu groß an.
Übergroß.
Lässt sie frieren.
Ein Blick über die Schulter zeigt ihr mehrere hundert Jugendliche der zwei Gymnasien ihrer Stadt.
Traditionell fahren sie an den Samstagen zwischen den Abiturprüfungen und den Sommerferien über die umliegenden Dörfer. In den Gärten aller Eltern, die es zulassen, werden „Bäumchen gesetzt“ zur Erinnerung an die erreichte Hochschulreife. Von Reife zeugt an diesen Wochenenden wenig. Baum und Bier werden in buntbemalten Schrottautos von A nach B gefahren.
Und wenn diese „GAU-Fahrzeuge“ nur noch Bier statt Bäume halten, fährt die Wagenkolonne in jenes Waldstück, um die Zukunft zu feiern. Hunderte Abiturientinnen und Abiturienten in den Pullis der Saison. Unter sie mischen sich die Pullis der letzten Jahre. Farbtupfer aus Ehemaligen. Abitur 2000. Abitur 1999. Abitur 1998…
Sie beobachtet die Pullis, ihre Träger und ihre Autos seit Jahren.
Mindestens seit 1992.
Ihre Geschichte zwischen 1992 und 2001 ist schnell erzählt.
Abschluss der Grundschule: Sie würde gerne auf das Gymnasium. Die Grundschullehrerin schwärmt von der örtlichen Realschule. Sei es nicht viel schöner für die kleine Annika, wenn sie eine gute Realschülerin würde statt einer schlechten Gymnasiastin?
Und falls sie alle überraschen würde, dann könne sie ja nach der 6. Klasse noch wechseln. Es hieße ja bekanntlich „Orientierungsstufe“.
Sie strengt sich an zwischen 1992 und 1994. Und bittet Eltern und Lehrer, doch nun auf das Gymnasium wechseln zu dürfen. Ihre Noten sind gut. Sehr gut.
Nein, empfehlen die Lehrer wiederum. Annika sei so zart, so zurückhaltend. Auf dem Gymnasium wehe ein anderer Wind. Ein Sturm gar. Keine Empfehlung.
1998 startet sie den dritten Versuch eines Schulwechsels.
Früh zieht sie die Klassenlehrerin ins Vertrauen. Bittet sie, ihr Gesuchen endlich zu unterstützen.
„Annika, mit deiner Einstellung wirst du niemals das Abitur machen“, erklärt diese.
Ihre Eltern raten ihr, sich mit ihrem sehr guten Zeugnis auf einen der begehrten Ausbildungsplätze als Bankkauffrau zu bewerben.
Sie schaut zurück: 1992 war sie zu dumm, 1994 zu schüchtern, 1998 zu unmotiviert.
Auf ihrem Motorroller versucht sie den Kopf frei zu bekommen. Ein blauer Piaggio Sfera mit gelben Punkten. Im Laufe der nächsten Jahre wird sie ihn mehrfach umlackieren. Aber das ist eine andere Geschichte.
Sie wird überholt. Von den GAU-Wagen 1998.
Und gibt Gas. Nimmt die Verfolgung auf, obwohl es hoffnungslos scheint.
Drei Jahre später, im Jahr 2001, wird sie keinen Roller bemalen, sondern einen roten Ford Fiesta. Sie wählt die Farbe Schwarz.
Die Farbe der Pullis der Saison.
Und sie wird im Wald stehen und weinen.
Weil sie aufgeholt hat.
Aber der Pulli nicht passen will.
Zeitensprung:
Über 20 Jahre später wird ihr ein Pulli geschenkt.
„Abitur 2023“ steht darauf.
Ihr Name steht wieder auf der Rückseite, denn es ist „ihre“ Stufe.
Sechzig Jugendliche werden ihr Reifezeugnis bekommen, weil es sie gibt.
Unter ihnen nicht wenige, die wie sie „quer“ dazu- und aufgestiegen sind.
Sie wissen es nicht immer, aber auf sie hat sie ein besonders waches Auge.
Schaut, ob sie in ihre Pullis wachsen.
Am 31.03.2023 zieht sie sich in ihrem Büro um.
Tauscht die blaue Bluse mit den zarten Rüschen gegen den schweren, anthrazitfarbenen Hoodie.
Die 41-Jährige bindet die mittlerweile grauen Locken zu einem unordentlichen Dutt hoch.
Währenddessen begutachtet irgendwo in der hintersten Seelenecke eine 18-Jährige ihren Pulli.
Er passt, als hätte sie nie etwas anders tragen sollen.
Mein Schreibpädagoginnen-Ich liest die getippten Zeilen.
Mein Lehrerinnen-Ich nickt zustimmend.
Und das Autorinnen-Ich ergänzt weise: „Wer schreibt, lebt zweimal. Mindestens.“
Wann erzählst du, liebe Freundin, deine Geschichte?
Wann schreiben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, Ihre Geschichte?
Annika Ginau
nun noch mal ich. Deine Geschichten sind atemberaubend – besonders der zu große Pulli! Danke!!